Schreibwerkstatt: Idomeni

Idomeni

   Ein alter Mann über die Achtzig, Minister a. D., schläft in seinen Schlafsack gehüllt aus Solidarität mit den Flüchtenden dieser Welt, als nachts in einem Zelt nebenan eine hochschwangere Frau ihr Kind gebiert und kein Arzt, kein Geburtshelfer zur Stelle ist, der ihr beistehen kann. Ihr Ehemann wartet in Deutschland in einem Flüchtlingscamp. Dorthin möchte sie unbedingt. Sie schreit nicht, sie beißt die Zähne zusammen und wimmert leise vor sich hin. Der alte Mann, jetzt hellwach, hat es mitbekommen, kriecht aus seinem Zelt, stapft durch den Schlamm, will helfen als Christenmensch. Die Mutter hat sich die Nabelschnur selbst durchgebissen, bettet das schreiende Neugeborene auf das einzige Kissen im Zelt, daneben liegen drei weitere Kinder mit aufgerissenen Augen in eine Decke gehüllt, frierend, hungernd. Sie sagen nichts, halten sich eng umschlungen. Das Kerzenlicht flackert. Klaglos wäscht die Frau das Neugeborene in einer Regenpfütze, lächelt beglückt. Der alte Mann schaut entgeistert, spricht von Kulturschande für Europa, möchte helfen, holt trockene Tücher. Die Mutter bedankt sich, thank you, Germany, thank you, legt sich das Kleine an die Brust. Es ist ein Junge, sie hat es gewusst. Er soll Djadi heißen, flüstert sie in die eiskalte Nacht, es bedeutet, „mein Glück“; denn sie hat ihn gesund zur Welt gebracht, mutterseelenallein, hier in Idomeni, in Griechenland, an der Grenze zu Mazedonien, umgeben von Zäunen und endlos ausgerolltem Stacheldraht.
   Dafür gibt es Zeugen.
   Doch wer klagt wen an?
   Und vor welchem Gericht?

Klaus Werner Hennig

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Redaktion Schöneiche Online